fotos: felix liebig, 8. februar 2012
ein ausflug ins hinterland nach schwerin. ich kenne eine kostümbildnerin dort und nutze die gelegenheit des besuchs zu einer fahrt mit bahn.
zwischen bad doberan und wismar legt die bahn einen querschnitt durch die hinterlandschaft, der es mir antut. ich greife auf diesem abschnitt zur kamera um den querschnitt aus dem rechten seitenfenster zu dokumentieren. wie oft bin ich diese strecke mit dem auto gefahren. die b 105 ist hin und wieder sichtbar. dann fahren bahn und auto um die wette. auch diesmal sollte es fast das auto sein, doch ich entscheide mich dagegen und für die freiheit und sozialität der geräumigen bahntriebwagen – bzw. die umstände des wetters und soeben geführter gespräche über die „nutzlosigkeit“ des automobils lassen es zu. vielleicht zweimal in meinem leben bin ich mit der bahn diese strecke gefahren. in meiner heimat – wobei: eigentlich nur deren hinterland, denn das meer ist immer schon attraktiver, auffangender als heimat.
hätte ich gewusst, was kommt…
kulturgeologie findet hier also als querschnitt statt. aus der bahn sieht mensch die gesellschaft von hinten. anschüttungen und abtragungen zugunsten des ebenmäßigen bahnprofils erlauben ein- und durchblicke in mensch-zeit-raum-schichtungen. die kulturtechnik besteht im durchmessen dieser schichtungen als integration über die zeit. albert einstein hätte seine freude daran. die langsamkeit des zuges ist seine schnelligkeit. bilder verschmelzen fast, aber eben nur fast und lassen dem betrachter interpretationsbrücken. die landschaft um den zug ist ein (auf)zug von orten und begebenheiten. daran wiederum hätte august der starke sein freude gehabt. ortstypisches kulturgut, menschen, bahnhöfe, windräder reihen sich auf zu einem ausgerollten panorama mecklenburgischer ruralität. in echtzeit! wo ist ein notorisch geschichtsrevisionistischer jadegar assisi, wo ein (nicht ganz) realsozialistischer werner tübke? es beginnt mit einem sportplatz. hier bin ich mehr als ein paar mal um die wette mit anderen und um medaillen gelaufen. dahinter in einer baracke die ehemalige sportmedizin. dort wurde mir exakt mein wachstum vorrausgesagt. wenn das jemand mit unserer gesellschaft täte, würden wir nicht soviel darüber spekulieren, sondern einfach machen. das wäre ein feiner zug von uns allen für uns alle. aber zurück zum zug: an selbiger stelle brachte sich auch ein mann zu meiner kinderzeit um. er legte sich in der kurve vor den zug. die landschaft nimmt all das an. unter weißen schneedecken werden vom pflug gerundete berge immaterielle gebilde vor einem ebenso schneeweißen end- und zeitlosen wolkenhorizont. wir durchscheiden diese mit einem technischen hilfmittel. dazwischen bräunliche gebüsche und ackerpfurchen, auch kiefernhaine. wir durchschneiden auch diese. ab und an heutzutage bunt eingepackte häuser, orangefarbene straßenschilder, zumeist leere bahnhofsbauten aus dem tradierten roten ziegel des nordens. dazwischen grüßen weiß auf preussischem (?) blau die uniformen ausstattungsmerkmale der bahn auf ihren höfen. hier kommen sich bahn und (kultur)landschaft am nächsten: eine trittstufe fährt beim türöffnen aus dem zug bis auf zentimeter genau an die bahnsteigkante, damit sich die bahn die als europäisches kulturgut verinnerlichte ansage sparen kann „please mind the gap between platform and train“. soweit weg ist die landschaft also gar nicht. wenn mensch aussteigt. so schaue ich in die ferne und wundere mich über die nähe. erst kurz vor wismar wehen hinter den erdwällen, über deren zenith die dächer und flaggen der neuen gesellschaftlichen mitte kaum hinwegsehen können, die fahnen der immernoch erhabeneren schlote der fabriken. sie sind noch nicht für die mobilfunktelefonie tertiarisiert worden.
inspiriert ist insbesondere der schräge blick durch das fenster von dem englischen künstler john newling, der 2009 eine ähnliche herangehensweise in einer gedruckten arbeit integrierte. als soundtrack zu der fahrt ergab sich die musik der platte „sool“ von ellen allien. deren feine minimaltechnoide klänge gingen einher mit dem quietschen einiger gummis des triebwagens und vermischten sich mit verschiedenen anderen geräuschen der fahrt.
es kam noch anders.
irgendwo im nirgendwo zwischen wismar und kalsow liegt hornstorf. auf der rückfahrt überhöre ich ob meiner musik die ansage, dass der zugführer ein wildschwein überfahren habe und nun techniker und notfallmanager auf dem weg seien. geschlagene aber entspannte zwei stunden später stolpern die fast durchweg sehr jungen passagiere über den am morgen noch fotografierten acker zum bus. zurück bleibt ein zug in der landschaft. leuchtend im dunkel der nacht. entleert, fragil nun im weiten nichts. ein wildschwein hat ihn zur strecke gebracht. adieu. nun also doch das auto, die b 105. die alte sitte. die landschaft verschwindet im dunkel aus nacht und geschwindigkeit. sichtbar wird erst wieder die stadt.
melankolie bei der fahrt durch eine landschaft. wann nimmt man sich schonmal die zeit für eine lese-zeit-reise mit dem zug. wörter werden lebendig. Der Zug. Die Streckenkultur. Die Menschen. Das Feld. Der Schnee. Das Wildschwein. Tod. doch wer schlägt hier wen, die natur des wildes die dynamische technik oder gewinnt am ende doch das ruhende land. als poetische roadstory sehr lesenswert ;-)