L.E.

fotos: felix liebig, 14. februar 2012

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ein mehrtägiger kulturspaziergang in leipzig.

aus lindenau sicht, von einem sozialen umfeld kreativer unternehmergeister aus und mit blick von einer veranda gleich am straßenbahnhof angerbrücke erschließt sich leipzig als ort konstruktiver spinnerei mit einem lebendigen urbanen narrativ. hier wurde ich wunderbar aufgehoben von einer modedesignerin, einer künstlerin und einer theater- und filmwissenschaftlerin.

warum genau sich leipzig gern als L.E. tituliert weiß ich bisher nicht. gewiss liegt es nahe. eine mögliche referenz auch aus meiner perspektive auf stadt liegt natürlich in L.A., los angeles im westen der usa. ob leipzig über die lautsprachliche ähnlichkeit hinaus eine himmlische stadt ist, bleibt fraglich. meine gastgeberin „liebt“ leipzig ausdrücklich, als zugezogene. auf der karl-heine-straße gibt es an einer fassade eine passende lichtinstallation „liebe“ neben anderen auf anderen fassaden wie „glück“. dazu ein link zum „hohen wort“ über das quartiersmanagement (qm) leipziger westen.

ein engel ist auch die freundin nur soviel wie sie ein teufelchen ist. und das ist gut so. im literarischen kontext gibt es eine weitere referenz. soeben halte ich das buch von christa wolf „stadt der engel oder the overcoat of dr. freud“ in händen. die autorin hinterfragt das glorreiche amerikanische bild der eroberung der welt mit der tiefsinnigkeit und vergangenheit einer deutschen geschichte in ihrem scheitern an der welt. dr. freud wirft seinen wenig engelshaften mantel über das heere bild…

wieviel mythos hat L.A.? welchen mythos hat L.E.?

soviel spinnerei muss sein. von lindenau und plagwitz aus haben menschen wie karl heine und die vielen arbeiter in den fabriken der industrialisierung zu ihrem heutigen mythos verholfen. auch meine mutter hat noch als studentin in der leipziger baumwollspinnerei der 60er jahre für ein nebenverdienst spulen gesteckt. der künstler maix mayer war 2011 auf den spuren der abbaugebiete der leipziger baumwollspinnerei in „deutsch-ostafrika“ im heutigen tansania auf einen (baobab)baum und einen wasserturm gestoßen, sonst nichts. zwei symbole, je eines für natur und kultur, erzählen noch von der kolonialisierung, auf deren rücken auch leipzig prosperierte. der rest ist vergangen und von den zeitläuften überholt. die arbeit „cine afrique“ dazu ist derzeit im „archiv massiv“ der spinnerei zu sehen. in einem bildband von marc mielzarjewicz namens „lost places“ sind viele der anderen industriestandorte im leipziger süden und westen abgelichtet und erfreuen sich im reellen kulturellen bewusstsein auch über geocaching, location scouting und urban exploration usw. anhaltender beliebtheit. hier die website des autors. und hier ein weiterer link zu der sehenswerten filmdokumentation „lost place L.E.“ von enno seifried. die lost places sind heute wie auch die arbeiterhäuser der gründerzeit kulturkerne einer als kreativwirtschaft bezeichneten gemengelage von kulturarbeitern, denen die stadt raumsoziologische bedingung ihres daseins ist. der dokufilm hat sich übrigens über das crowdfunding finanziert. L.E. ist allerdings kein lost place.

der spaziergang bringt so zunächst phänomenologische, also stadtanatomische eigenheiten ans licht, erst später in gesprächen und recherche erschließen sich dahinterliegende komplexe. dr. freud lässt grüßen. gründerzeit ist in leipzig vordergründig nichts anderes als z.b. in görlitz, wo ich zuletzt war. wie dort gibt es in leipzig neben prachtvoll sanierten und liebevoll gehegten bauten die vielen hohlen zähne. den leerstand. die winkel und nischen. die blau, grün und im bau bereits silbern verkleideten altbauten. und natürlich kulturelle ein- und aufschlüsse aus allen epochen. und auch die menschen in diesen räumen. besagte gastgeberin ist von der architektur in die mode gewechselt und arbeitet derzeit unter dem label „made by yve„. leipzig bildet womöglich das architektonische sinnbild dafür als urbanen hintergrund ab:

dr. freuds mantel oder des kaisers neue kleider?

man weiß es nicht. wohl weiß mensch, dass darin nicht nur unter dem dach der „wächterhäuser“ experimentierraum liegt. ob mit kunstprojekten wie „kollektion lindenau“ der künstler maix mayer und stefan rettich (link über die stadt) oder mit der „vleischerei„, wo es „vöner“ gibt, oder mit der „skorbut“, einer art off-pub auf der dreilindenstraße 1 gleich gegenüber der ebenso zeitgenössischen kaufland-baustelle oder oder oder. die skorbut ist übrigens eine alte vitamin-mangel-krankeit, die schon die ägypter kannten … (unabhängige) kultur will sinnvoll genährt werden.

so liest sich die stadt leipzig von lindenau aus tatsächlich wie mit den „eselsohren der stadt“, die peter wawerzinek in seinem buch „das kind das ich war“ in konträren mecklenburg-ländlichen kontext beschreibt. an neuralgischen punkten knickt das urbane fluidum der häuser um und eröffnet einblicke, durchblicke, ausblicke: eine poesie der stadt, in der die menschen die hauptrolle und ihre kreativität die dramaturgie spielen und viele von ihnen ihre lebensnarrative entwickeln. ein inkubator. jene freundin arbeitet über dem „neuen schauspiel“ in einer ehem. druckerei im hinterhof der lützner straße 29, wo mitstreiter der „hackstatt“ am eigenen stammtisch bei meinem atelierbesuch gerade über die einrichtung eines „fab lab“ diskutieren oder andere mit dem pinsel und viel terpentin in der luft ihrer malerei nachgehen. hier wird geschichte gemacht und nicht soviel über geschichte geredet.

das scheint mir als gast der entscheidende unterschied zwischen dresden und leipzig.

der passende soundtrack könnte textlich von der band „fehlfarben“ im titel „ein jahr (es geht voran)“ kommen, ist aber geschichtlich differenzierter belegt. christa wolf arbeitet im genannten buch ein ereignis in ihrer lebenszeit literarisch auf, das exemplarischer mein ansinnen darstellt: vom „virus der menschenverachtung“ ist die rede. dieses aufarbeiten und dessen zeitgenössische formalisierung in medien und politik in dresden zum 13. und auch 18.2. war ein grund für meine temporäre ‚ausreise‘, wenngleich das thema dennoch im raum lag und liegt und in vielen gesprächen beschäftigt. die perspektive von L.E. aus war hier hilfreich. in leipzig steht im stadtmagazin kreuzer (ausgabe 2/2012) dafür mit klaren worten die haltung der protagonisten zum rechtsradikalismus. öffentlich, ohne druckserei. und das ist im stadtraum nachvollziehbar. es wird gesagt wo und mit wem es probleme gibt. offen. kein freud’scher versprecher, sondern tacheles in der jetztzeit. geschichte ist hier lebendig, alltäglich, aber kein doghma, keine projektion, meine ich.

vergangenes ist teil des jetzt. in L.E. – vielleicht doch eher dem recht vitalen westen von leipzig – fängt stadt jeden tag neu an ist mein eindruck. neben der gründerzeit sprießt das einfamilienhausidyll. schulter an schulter. gleich dahinter grassiert die industrieruine. dazwischen drängeln sich nun kreativwirtschafter und die ausdauernden hausbesetzer. ein lob auf die vielfalt. „ort der vielfalt“ will leipzig sein und schreibt es an jedem kulturellen ort der kommune auf eine plakette. eigentlich gibt es neben dem rechtsradikalen und rechtspopulistischen gedankengut und den offenkundigen gründen dafür hier gar nichts zu beklagen. eigentlich. wenn da nicht ein schwerwiegender komplex wäre:

geht mensch auf seinem kulturspaziergang gleich hinter der spinnerei in die kleinen straßen mit den kleinen häusern, empfängt ihn bedrückend biedere aura. freiheit Aushalten! heißt hier wie überall selbstverständlich „Ausfahrt freihalten!“. das private wird zähnefletschend und symbolüberladen verteidigt. jedem seine kleine welt aus haus und garten und eine digitale flatrate und einen flughafen mit direktanschluss für die große welt. was privatheit, globale flatrate und flughafen miteinander zu tun haben, erörterten auf dem performance-festival „aus flug hafen sicht“ 2008 die künstler jan caspers, anne könig, vera tollmann, jan wenzel in ihrer arbeit „was du wissen solltest (die zukunft)“. leipzig schlägt nicht nur pakete und urlauber um, auch soldaten. fragen sollte man besser nicht stellen und seine nuegier auch zurückhalten. was das vor ort heißt: beim fotografieren werde ich von einem bahnmitarbeiter – station plagwitz ist nebenan – mit bierseeliger stimme gefragt, wofür ich das mache. auf die antwort es sei für mich, kommt die obligatorische nachhut das sei „privatbesitz“. wie eigentlich alles heutzutage, kontere ich lakonisch und fotografiere an der nächsten straßenecke einen spionierenden gartenzwerg mit fernglas über einer buchsbaumhecke hinter zackigem zaun. dr. freud würde sich vielleicht die haare ausraufen an diesen patienten einer kruden kultur, in der menschenverachtung nicht mehr von menschen selbst, sondern den ihnen unter die füße geschobenen sogenannten gesetzmäßigkeiten des (kapitalisitischen) lebens geäußert wird, ergo nicht mehr hinterfragbar oder denn an- oder auch nur begreifbar ist. an anderer stelle bricht es aus einem ateliernutzer heraus: „demokratie ist eigentlich auch faschismus.“ nun, ich würde zumindest auf die totalität des kapitals in vielen lebenslagen und seine zugrundeliegende mechanik verweisen und fragen:

wo sind die echten freiräume für menschen, wenn alles besessen wird und jedes hoftor als symbol dem territorialwahn angedient werden muss? kann sich leipzig die janusköpfigkeit aus zivilem und militärischem handel als ort der vielfalt leisten?

unabhängig von den abgründen der handels- und kaufmannsstadt beeindruckt in L.E. als kosmos weniger die urbane als vielmehr die kulturelle dichte und macht doch mut. global- steht neben lokalbewusstsein. leipzig steht im kräftespiel aus tradiertem handel und new trade. nun verstehe ich die modebegeisterte freundin und ihre „liebe“ zu leipzig. städtebaulich ist hier viel raum, manchmal zuviel, ab und zu sicher auch zuwenig. literarisch, historisch, künstlerisch, unternehmerisch, architektonisch gibt es viele ansatzpunkte für die leipziger freiheit. beides bedingt sich. bestimmt auch in den „höfen am brühl„, die von der „blechbüchse“ vorübergehend zum „hochbunker“ mutieren und urbanität in die kulisse der privatwirtschaftlichen zweckarchitektur verlagern. oder in der doch irgendwie fortschreitenden – darf ich es sagen? – gentrifidingsbums wie christoph twickel es mit seinem buch „GENTRIFIDINGSBUMS oder eine stadt für alle“ nennen würde, deren prozesse auch ich schon seit fünf jahren und aus erzählungen viel früher am beispiel L.E. wahrnehme. leipzigs baubürgermeister martin zur nedden findet das alles im kreuzer-interview ‚gut‘ und ’notwendig‘. das muss er kraft seines amtes. meine gastgeber, z.t. zugereiste, finden das alles erstmal normal und haben einen viel selbstverständlicheren blick darauf als einige weniger weit gereiste einheimische. sie lassen dennoch (notwendige) kritische fragen zu. etwa nach dem gefühl der mitwirkung bei vielem, das im stadtteil aufgrund der konsumptorischen notwendigkeiten geplant und gebaut wird. wohlan: alle haben auf ihre weise recht.

hier bin ich nur noch zaungast. wichtig finde ich trotzallem, wäre die interaktion.

mich deucht in L.E. hier wie da und dort das gefühl des aufgehobenseins in einer nachbarschaft, einer haus- oder ateliergemeinschaft, vielleicht auch einer gedankengemeinschaft oder auch nur einer wg oder partei. L.E. scheint vielmehr ein mikrokosmos im leipziger süd-westen zu sein, eine urban-kulturelle anatomie der intermediarität, eine soziale wohnzimmergemeinschaft, die als solches in ihren strukturen, ihrer vielfalt, ihrem fluidum und ihrem sozial-urbanenen narrativ unbedingt erhaltenswert scheint. ein bewusstsein für das dazwischen, für die poesie, die sieht, wer sich z.b. mit dem geocaching im transitraum zwischen lebendiger stadt und lost places gleich nebenan bewegt. oder mit aller gelassenheit und neugier spazieren geht und hinsieht, genau hinsieht und beschreibt. siegfried kracauer und walter benjamin sind die literarischen passanten der moderne gewesen, stehen pate. lucius burgkhardt war es in der postmoderne und begründete die spaziergangswissenschaften. bertram weisshaar oder boris sieverts sind es heute. ersterer lebt in leipzig. mit seinem „atelier latent“ findet er nicht nur hier genug stoff. letzterer ist in köln unterwegs und erkundet stadt, raum und umland mit dem „büro für städtereisen„.

solcherlei urbane narrative möchte der kultur!ngenieur weiter in das bewusstsein der entdeckungslustigen rücken. mit oder ohne freud. engel oder teufel. L.E. hat hier viel zu bieten und versteckt sich im gegensatz zu dresden keineswegs hinter dr. freuds mantel.

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